von Dr. Jan Finzel, Rechtsanwalt u. Fachanwalt für Versicherungsrecht
Die Verletzung der Räum- und Streupflicht beschäftigt regelmäßig die Gerichte. Oft kommt es vor, dass dem Geschädigten vorgeworfen wird, er sei am Unfall selbst schuld. Mit dieser Argumentation hat sich nun der Bundesgerichtshof befasst.
Der Fall ist schnell erzählt: die Klägerin wollte in der Fußgängerzone einkaufen gehen. Dort lag Schneematsch, der von der Stadt nicht entfernt worden war. Obwohl die Fußgängerin vorsichtig war und winterfestes Schuhwerk trug, stürzte sie auf der glatten Fläche und erlitt einen komplizierten Trümmerbruch im oberen Sprunggelenkbereich. Sie machte daher Schadensersatzansprüche gegen die verkehrssicherungspflichtige Stadt geltend.
Nicht mit uns, so die beklagte Stadt. Die Klägerin sei selbst schuld am Unfall: schließlich habe sie die Gefahrenlage ja erkannt, und außerdem habe sie in der Fußgängerzone keine unaufschiebbaren Angelegenheiten zu erledigen gehabt.
Landgericht und Oberlandesgericht folgten der Argumentation der Stadt und wiesen die Klage ab. Das OLG führte aus, jeder Verkehrsteilnehmer müsse sich auf die durch die winterliche Witterung entstehenden Gefahren einstellen. Die Klägerin habe dem zuwider gehandelt und sich ohne Not in Gefahr begeben, weswegen sie ein so erhebliches Mitverschulden treffe, dass die Stadt überhaupt nicht hafte.
Die Klägerin fand sich nicht mit der Entscheidung ab und legte Revision ein. Mit Recht: der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf. Die Stadt, so der BGH, habe mit der Verletzung der Räum- und Streupflicht die wesentliche Ursache für den Unfall gesetzt. Dass die Gefahrenlage erkennbar war, könne die Stadt nicht automatisch aus der Haftung entlassen, da sonst eine besonders schwerwiegende Verletzung der Räum- und Streupflicht stets folgenlos blieben müsste. Auch der Umstand, dass die Klägerin in der Fußgängerzone keine unaufschiebbaren Dinge zu erledigen hatte, führe nicht etwa zu einem vollständigen Ausschluss der Haftung der Stadt.
Im Gegenteil: grundsätzlich hafte primär derjenige, der die Räum- und Streupflicht verletzt. Ein haftungsausschließendes Mitverschulden komme nur in Extremfällen in Betracht, etwa, wenn sich ein Fußgänger in schlechthin unvertretbarer Sorglosigkeit auf eine erkennbar spiegelglatte Eisfläche begibt und hierauf zu Fall kommt.
BGH, Urteil vom 20.06.2013, III ZR 326/12
Dr. Finzel, Rechtsanwalt / Fachanwalt für Versicherungsrecht