von Dr. Jan Finzel, Rechtsanwalt u. Fachanwalt für Versicherungsrecht
Ab dem 45. Lebensjahr steigt die Wahrscheinlichkeit, aufgrund einer schweren Erkrankung arbeits- und berufsunfähig zu werden. Die häufigsten Ursachen der Berufsunfähigkeit bestehen in Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems, des Muskel-/ Skelettsystems, Krebserkrankungen sowie psychischen Erkrankungen wie z.B. Depressionen.
Während sich dies bei Selbständigen unmittelbar auf das Einkommen auswirkt, sind Arbeitnehmer aufgrund der gesetzlichen Regelungen (Entgeltfortzahlungsgesetz, Krankengeld) bis zu 1 ½ Jahren vor gravierenden Ausfällen geschützt. Danach stellt sich jedoch wie bei Selbständigen die Frage, wie es weiter geht.
Glücklich schätzen sich diejenigen, die vor der Erkrankung, meist in jungen Jahren, eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen haben. Die Berufsunfähigkeitsversicherung gewährt eine vertraglich vereinbarte Rente, wenn es dem Versicherungsnehmer gesundheitlich nicht mehr möglich ist, seinem zuletzt ausgeübten Beruf zu mehr als 50 % nachzugehen. Dies ist bei den beschriebenen Erkrankungen häufig der Fall.
Was viele jedoch nicht wissen: Die Berufsunfähigkeitsversicherung gehört zu den am stärksten umkämpften Rechtsgebieten. Denn wenn der Berufsunfähigkeitsversicherer einmal seine Leistungspflicht anerkennt, kann er sich von diesem Anerkenntnis nur noch durch ein sogenanntes Nachprüfungsverfahren lösen. Darum prüfen Versicherer jeden Fall besonders gründlich, bevor sie die Berufsunfähigkeit anerkennen.
So überrascht es nicht, dass nach einer Studie aus dem Jahr 2017 die Bearbeitungsdauer durchschnittlich bei 95 Tagen und die Ablehnungsquote je nach Unternehmen zwischen 13,9 und 55,8 % liegt.
Im Laufe meiner langjährigen anwaltlichen Tätigkeit auf dem Gebiet des Versicherungsrechts hat sich herausgestellt, dass häufig wiederkehrende Streitpunkte Gegenstand von Auseinandersetzungen sind. Im ersten Teil dieser Beitragsreihe geht es um folgenden Streitpunkt:
• Vorvertragliche Anzeigeobliegenheit / Rücktritt / Anfechtung
Sobald der Berufsunfähigkeitsversicherer den Leistungsantrag des Versicherungsnehmers erhält, beginnt er mit der Leistungsprüfung. Diese Prüfung beschränkt sich allerdings nicht etwa nur auf die Frage, ob der Versicherungsnehmer tatsächlich erkrankt ist – sie beginnt viel früher.
Zunächst lautet die Frage: hat der Versicherungsnehmer bei Abschluss des BU-Versicherungsvertrags seinen Gesundheitszustand richtig und vollständig dargestellt? Bereits hier besteht ein nicht unerhebliches Risiko, dass der Versicherer die Leistungen verweigert. Juristen nennen falsche Angaben im Versicherungsantrag die „Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit“. Je nach Verschuldensgrad kann diese dazu führen, dass sich der Versicherer vom Vertrag lösen kann und keine Leistungen erbringen muss, aber sämtliche Prämien behalten darf.
Allerdings berechtigt nicht jede unrichtige Angabe im Versicherungsantrag den Versicherer dazu, sich vom Vertrag zu lösen. Beispielsweise müssen Bagatellerkrankungen, also solche, die „offenkundig belanglos sind und alsbald vergehen“, nicht angezeigt werden, obwohl eigentlich auch hiernach gefragt wurde (die Gesundheitsfragen beziehen sich meist auf „ärztlich behandelte Krankheiten, Störungen oder Beschwerden in den letzten 3-5 Jahren vor Antragstellung“).
Die Grenze zwischen anzeigepflichtigen und nicht anzeigepflichtigen Erkrankungen ist jedoch schwer zu bestimmen. Beispielsweise können selbst leichte Erkrankungen anzeigepflichtig werden, insbesondere dann, wenn sie immer wieder auftreten und chronisch werden.
Häufig ist es so, dass sich Versicherer auf Einträge in der Patientenakte des Versicherungsnehmers berufen. Sind in der Krankenakte Diagnosen aufgeführt, die der Versicherungsnehmer bei Antragstellung nicht angegeben hat, erklärt der Versicherer in der Regel eine Anfechtung bzw. einen Rücktritt vom Vertrag mit der Begründung, der Versicherungsnehmer habe die vorvertragliche Anzeigeobliegenheit verletzt.
In einem solchen Fall kommt es auf den genauen Wissensstand des Versicherungsnehmers an. Denn der Versicherungsnehmer kann bei Antragstellung nur das angeben, was er tatsächlich weiß. Zum Teil finden sich in der Patientenakte – oder auf zwischenzeitlich eingereichten Arztrechnungen – Einträge, die dem Versicherungsnehmer gar nicht mitgeteilt wurden (etwa, weil der Arzt keine Behandlungsbedürftigkeit sah) oder „Phantomdiagnosen“, die schon lange zurückliegen und gleichwohl in der Patientenakte oder in Behandlungsrechnungen immer wieder aufgeführt werden.
Unabhängig davon liegt nicht automatisch in jeder unrichtigen Angabe zu den Gesundheitsfragen eine arglistige Täuschung. Die Rechtsprechung fordert darüber hinaus ein gewisses Unrechtsbewusstsein des Versicherungsnehmers. Dieses wird unterstellt, wenn der Versicherungsnehmer z.B. schwere, chronische oder schadengeneigte oder immer wieder auftretende zahlreiche oder dauerhafte Erkrankungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen verschweigt oder solche, die zu erheblichen Einschränkungen des Alltags geführt haben oder ihm offensichtlich als erheblich für das versicherte Risiko erscheinen mussten.
Ein Beispielsfall mag dies erläutern:
Die Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht setzt voraus, dass unrichtige Angaben gegenüber dem Versicherer gemacht werden. Der Versicherer selbst ist jedoch so gut wie nie anwesend, wenn der Versicherungsantrag ausgefüllt wird. In aller Regel bedient sich der Versicherer hierzu entsprechender Versicherungsvermittler. Dem entsprechend ist zu differenzieren:
Wurde der Vertrag durch einen Versicherungsagenten vermittelt, liegt eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung nur vor, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsagenten unzutreffend über seinen Gesundheitszustand aufgeklärt hat. Wenn der Agent jedoch mitgeteilte Erkrankungen bewusst nicht in den Antrag aufnimmt, etwa, weil er sie nicht für wesentlich hält, liegt keine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit vor.
Wurde der Vertrag hingegen durch einen Versicherungsmakler vermittelt, sieht die Rechtslage anders aus. Der Versicherungsmakler ist Vertreter und Sachwalter des Versicherungsnehmers und steht in dessen Lager, so dass sich der Versicherungsnehmer nicht darauf berufen kann, er habe den Makler richtig aufgeklärt.
Schlimmer noch: Sofern ein Versicherungsmakler dem Versicherungsnehmer wider besseres Wissen davon abrät, bestimmte Erkrankungen anzugeben, wird die dann vorliegende Arglist des Maklers dem Versicherungsnehmer zugerechnet (BGH, Beschluss vom 12.03.2008, IV ZR 330/06, vgl. aus neuerer Zeit: LG Aachen, Urteil vom 03.11.2016, 9 O 346/14). In diesen Fällen wiederum kommen Schadensersatzansprüche gegenüber dem Versicherungsmakler in Betracht.
Zum Autor:
Dr. Jan Finzel ist seit 2002 als Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Versicherungsrechts, insbesondere des Personenversicherungsrechts, tätig und seit 2006 Fachanwalt für Versicherungsrecht.